Disharmonie, Dienstag, 21. November, 18.00 Uhr
„Die Schinderei hat sich gelohnt!“

Erinnerungen an den Marsch nach Bonn vor 30 Jahren


Erinnerungen an den Bonn Marsch in der DisharmonieErinnerungen an den Bonn Marsch in der Disharmonie

Ein Abend des Erinnerns und Nachdenkens - Eine Veranstaltung der IG Metall Schweinfurt

Alle Bonn-Marschierer werden persönlich eingeladen. Die Veranstaltung ist öffentlich, Eintritt frei.

Das Disharmonie-Ensemble und der Pianist Mad Bob werfen einen Blick auf das Krisenjahr 1993, folgen den 4 Frauen und 35 Männern auf dem entbehrungsreichen Marsch nach Bonn, lesen aus Presseberichten und Kommentaren. Sie lassen das damalige Geschehen wieder aufleben.

Krise 1993 – Ende des Wachstums bei FAG?
Gestaltungskraft der IG Metall bei umwälzenden Veränderungen

 

Die Arbeitslosenquote in Schweinfurt lag 1993 bei 12 Prozent und gehörte damit zu den höchsten im damaligen Bundesgebiet. Vorausgegangen war der Niedergang traditionsreicher Metallbetriebe wie Fenster Vogel und die Meisterwerke (Nähmaschinen) sowie Personalabbau bei SKF. Auch FAG Kugelfischer und Fichtel & Sachs passten die Kapazitäten an, so dass trotz des Wiedervereinigungsbooms die Warnzeichen unübersehbar waren. Schweinfurt wusste um seine Abhängigkeit von der Metallindustrie und die IG Metall sensibilisierte die Öffentlichkeit bereits im Frühjahr 1992 mit Hinweisen auf die industrielle Monostruktur.

 

Die weltweite Nachfragekrise 1992/93 traf die FAG Kugelfischer AG in existenzbedrohender Weise. Seit vielen Jahren ertragsschwach, mit Umsatzrenditen von 3 bis 5 Prozent, ging das Management mit der vollständigen Übernahme der ostdeutschen Wälzlagerindustrie DKFL und dem Kauf der koreanischen Hanwha-Gruppe zu große Risiken ein. Das aufgeblähte Management mit zu vielen Hierarchieebenen erwies sich als wenig handlungsfähig. Im Dezember 1992 war das Unternehmen mit 2,2 Mrd. DM verschuldet. Die Banken verlangten angesichts der drohenden Zahlungsunfähigkeit umfassende Umstrukturierungen, die der bekannte Firmensanierer Dr. Kajo Neukirchen in kurzer Zeit durchsetzte. Der Vorstand wickelte die ostdeutschen Standorte ab, Unternehmensteile wie die FTE in Ebern wurden verkauft und das Personal halbiert.

 

Größte Demonstration Schweinfurts

Am 13. Februar 1993 folgten 13.000 Menschen dem Motto der IG Metall „Stoppt den Arbeitsplatzabbau – Keine weiteren Verlagerungen – Die Region muss weiterleben“ zu einer Demonstration und Kundgebung auf dem Marktplatz. Mit den Forderungen sind die drei Stoßrichtungen der Interessenvertretung benannt:

·       Widerstand gegen Arbeitsplatzvernichtung,

·       Einmischung in betriebliche Entscheidungen,

·       Regionale Industriepolitik.

 

Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute organisierten mehrere Großdemonstrationen in Schweinfurt. Die Mahnwache am Tor 1 von FAG sowie eine Menschenkette von den Betrieben SKF, Fichtel & Sachs und FAG zum Arbeitsamt brachten tausende von Menschen auf die Straße. Vom 13. bis 21. Oktober 1993 folgte der Marsch nach Bonn. Vier Frauen, 35 Männer und ein Hund trugen das Motto „Kanzler, mach die Augen auf – Schweinfurt wird ein Armenhaus“ über rund 320 Kilometer ins Kanzleramt.

 

Mit Unterstützung des IMU-Instituts entwickelte die IG Metall ein Konzept für die regionale Industriepolitik. In großen Konferenzen mit Betriebsräten, Kommunalpolitikern und Vertretern der Landesregierung war eine breite Beteiligung der Akteure sichergestellt. Davon geblieben ist das sogenannte Gründer- und Innovationszentrum (Gribs) unter Federführung der IHK.

 

Die damalige CSU-Oberbürgermeisterin Gudrun Grieser kritisierte die „Untergangsstimmung“, die sie den Aktionen der IG Metall zuordnete und setzte auf Arbeitsplätze in Kultur und Dienstleistung. Die Ausgründung der EDV von Kugelfischer an IBM mit bis zu 630 Arbeitsplätzen (Stand vom 5. März 2005) war ein Leuchtturm dieser Strategie. Ab 2005 baute das Unternehmen jedoch das Personal ab. 2015 gab das Unternehmen das Rechenzentrum in Schweinfurt auf und Schaeffler erwarb das Gebäude. In den Krisenjahren entstanden viele Klein- und Mittelbetriebe aus ausgegliederten Aktivitäten der Metallindustrie. Vom Konstruktionsbüro bis zur Qualitätssicherung tragen diese Unternehmen zum industriellen Netzwerk bei.

 

Gerade weil die Aktionsformen der IG Metall bundesweit für Aufmerksamkeit sorgten, gelang es der Oberbürgermeisterin, strukturpolitische Maßnahmen nach Schweinfurt zu holen. Das Museum Georg Schäfer, mit bedeutenden Werken der Malerei, wurde mit Landesmitteln und aus einer Stiftung der Eigentümerfamilie Schäfer errichtet. Teile des Landessozialgerichts und des Landesamtes für Statistik brachten rund 300 krisensichere Arbeitsplätze nach Schweinfurt. Das im Oktober 2002 eröffnete Konferenzzentrum mit Hotel auf der Schweinfurter Maininsel ist ganzjährig ausgebucht.

 

Der Widerstand gegen Arbeitsplatzabbau konnte die Verringerung der Mitarbeiterzahl jedoch nicht aufhalten. Mit Abfindungen durch Sozialplan, Vorruhestandsregelungen in Verbindung mit Arbeitslosengeld verabschiedeten sich 1993 allein bei FAG 2.400 Beschäftigte innerhalb von wenigen Monaten. Die ausgesprochenen Kündigungen sowie die Ungewissheit in Bezug auf das Überleben des Unternehmens veranlassten viele Mitarbeiter, eine Alternative anzustreben.

 

Mit Lean-Management aus der Krise

Mit dem radikalen Personalabbau leitete das neue Management tiefgreifende Veränderungen im Betrieb ein:

·       In drei Hierarchie-Ebenen delegierte der Vorstand Entscheidungen nach unten.

·       In der Halle F bauten die Ingenieure eine neue Zellenfertigung nach japanischen Lean-Management-Methoden auf.

·       Teilautonome Gruppenarbeit mit Wahl der Gruppensprecher durch die Mitarbeiter im Team wurde gestartet.

·       Es wurde eine Standardprämie mit zusätzlichen Elementen der Mitarbeiterbeurteilung eingeführt.

·       Ein ständiger Verbesserungsprozess floss in das Ideenmanagement ein.

·       Arbeitszeitflexibilität trat an die Stelle von „Heuern und Feuern“.

 

Bereits Mitte 1994 fasste FAG Kugelfischer wirtschaftlich wieder Tritt. Es kam erstmals wieder zu Neueinstellungen. Nicht wenige der frisch eingestellten Beschäftigten gehörten zu den vorher entlassenen Arbeitnehmern. Betriebsräte und IG Metall legten auf Basis ihrer Erfahrungen in der Krise die eigenen strategischen Grundannahmen neu fest. Dies hatte umfassende Auswirkungen für die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretung:

 

·       Die Auseinandersetzungen wurden ab diesem Zeitpunkt viel stärker im Konflikt ausgetragen.

·       Frühzeitig fragten die Betriebsräte jetzt nach wirtschaftlichen Zusammenhängen, um rechtzeitig handeln zu können und von der Defensive in die Offensive zu kommen. 1998 und 2004 beispielsweise gab die IG Metall eine Studie zur wirtschaftlichen Lage der Wälzlager-industrie in Auftrag und lud Betriebsräte zu Branchenkonferenzen ein.

·       Vereinbarungen zur Beschäftigungs- und Standortsicherung verknüpften die von den Unternehmen gewünschte höhere Flexibilität der Arbeitnehmer mit der von Belegschaften, IG Metall und Betriebsräten gewünschten Zusicherungen von Kündigungsschutz und Standortsicherung.

·       Neue Werkzeuge zur Beschäftigungssicherung, wie Zeitkonten und Gruppenarbeit, trugen wesentlich zur Modernisierung der Arbeitsbeziehungen – unter Verteidigung der tariflichen Rahmensetzung – bei.

·       Mit der Gründung der tariflichen Leiharbeitsgesellschaft QB (Personaldienste Qualifizierung und Beschäftigung GmbH), der Einrichtung der Arbeitszeitkonten, dem Projekt „Campus und Job“ sowie dem Kampf um gute Arbeitsbedingungen im Lager- und Verteilzentrum (LVZ) erwiesen sich IG Metall und Betriebsräte bei FAG Schweinfurt als gleichermaßen konfliktbereit wie lösungsorientiert.

 

Die IG Metall gewann mit dieser strategischen Neuausrichtung nach der Krise erheblich an Zustimmung. In den Betrieben, insbesondere bei FAG Kugelfischer, stieg der gewerkschaftliche Organisationsgrad deutlich. Das industriepolitische Profil machte zudem die IG Metall und die Betriebsräte regional zu anerkannten Partnern der Politik und in der Öffentlichkeit.

 

Literatur:

-       „Auf dass der Mensch ein Mensch bleibt“. DGB-Kreis Main-Rhön/Schweinfurt, 1998

-       „Schweinfurt: kleine Stadtgeschichte“. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2014

-       „Durchblick“: IG Metall-Vertrauensleute bei FAG informieren. Ausgaben 39/März 1993; 40/Juli 1993; 41/Oktober 1993; 42/Dezember 1993